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Title
Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers


Author(s)
Olechowski, Thomas
Published
Tübingen 2020: Mohr Siebeck
Extent
XXI, 1.027 S.
Price
€ 60,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Peter Techet, Institut für Staatswissenschaften und Rechtsphilosophie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Auch wenn Hans Kelsen bis heute als einer der größten Rechtswissenschaftler zumindest des kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens anzusehen ist, fehlte es noch immer an einer wissenschaftlich fundierten Untersuchung seines Lebensweges. Während seinem Kontrahenten in der Weimarer Republik, Carl Schmitt, unzählige historische, ideengeschichtliche, biographische Analysen gewidmet sind, blieb die Person Hans Kelsen lange unerforscht – als ob seine sehr abstrakte „Reine Rechtslehre“ an sich keiner historischen (gar biographischen) Kontextualisierung bedürfte.

Die „Reine Rechtslehre“, wofür Kelsen in der Rechtswissenschaft weltbekannt wurde, nimmt für sich methodologische Reinheit in Anspruch und schließt daher jegliche soziologische, politische, religiöse, historische (usw.) Aspekte aus, die in vielen anderen Rechtstheorien vorzufinden waren und sind. Die abstrakte Reinheit ermöglicht freilich eine kaum übertreffbare, logisch scharfe Beschreibung von der Funktionsweise des Rechtssystems – Kelsen gelang es dabei, althergebrachte (wenn auch bis heute in der „herrschenden Meinung“ fest verwurzelte), meistens ideologisch aufgeladene Ideen der Rechtswissenschaft (wie den Dualismus zwischen Staat und Recht oder die Unterscheidung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung) infrage zu stellen. Die von ihm geforderte methodologische Reinheit schien sich aber auf alle Forscher/innen, die sich seines Werkes annahmen, in gewisser Weise einschüchternd ausgewirkt zu haben, interessierten sich doch nur wenige bis dato für die Person Kelsen oder seinen Lebensweg.

Schon deshalb ist es sehr erfreulich, dass der Wiener Rechtshistoriker Thomas Olechowski – mit seinen Mitarbeiter/innen in Wien – eine tausendseitige Kelsen-Biographie vorlegen konnte. Vor diesem Buch gab es nur zwei eher kürzere Studien über das Leben von Hans Kelsen: eine Autobiographie1 sowie eine Biographie, die ein guter Freund von Kelsen – aufgrund der späteren Erinnerungen von Kelsen selbst – verfasste.2 Dass Olechowski und sein Team gut 15 Jahre für die große Arbeit brauchten, ist nicht wunderlich – zumal die Quellen (eine Folge von Kelsens Odyssee) unter anderem im galizischen Brody, in Prag, Wien, Köln, Genf, New York und Los Angeles liegen.

Olechowski geht im Buch nach dem klassischen Muster einer chronologischen Erzählung vor. Kelsens Person ist allerdings aufgrund fehlender Egodokumente viel schwieriger zu erschließen als etwa Carl Schmitt, der Tagebücher schrieb und zahlreiche regelmäßige Korrespondenzen führte. Olechowski stützt sich stattdessen auf veröffentlichte Briefe, Memoiren aus dem Freundeskreis von Kelsen. Wenn auch Kelsen selber wenig Privates über sich kundtat, verkehrte er in Wien, Köln, Genf und dann in den Vereinigten Staaten unter Personen (angefangen von den Vertretern der „österreichischen“ neoliberalen Schule, von denen Kelsen viele aus der Wiener Schulzeit kannte), in deren Büchern oder privaten Briefen er dann wiederum auftauchte. Olechowski gelingt es dadurch, Kelsen selber im Milieu des „intellektuellen Wien“ (Sigmund Freud, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek usw.) zu verorten, das später auch außerhalb von Wien weiterwirkte. Aber im Vergleich zu anderen „Wiener Schulen“ (Psychoanalyse, Sprachphilosophie, Ökonomie) bedeutete das Exil für die Kelsen-Schüler/innen einen klaren Bruch: Nach dem „Vertreiben“ aus dem gewohnten Wien setzte Kelsen fast im Alleingang die Theoriebildung der „Reinen Rechtslehre“ fort. Immerhin lässt sich Kelsens Leben als eine typische (post-)habsburgische Biographie beschreiben. Olechowskis Werk ergänzt insofern das Tableau der bekannten Wiener, meist jüdisch stämmigen (Exil-)Intellektuellen um Kelsen, der in diesem Kontext des „österreichischen Geistes“ in der einschlägigen Literatur bis jetzt weniger vorkam.

Kelsens Leben liest sich (wie Olechowski selbst schreibt) auch als „eine Mikrohistorie der Jahre 1881–1973“ (S. 20) – und zwar nicht nur für Zentraleuropa, sondern für ganz Europa und Nordamerika. Das Buch erzählt nämlich eine transnationale (transatlantische) Verflechtungs- und Wissenstransfergeschichte aufgrund einer Person, die nur in ihren Theorien, aber (leider) nicht in ihrem Leben konstant und stabil bleiben konnte. Kelsen wurde im damals österreichischen Prag geboren und wuchs in der Kaiserstadt Wien auf, wo er Jus studierte. In den letzten Kriegsjahren arbeitete er im K-und-K-Kriegsministerium, daneben fertigte er Pläne zu einem demokratisch-föderalen Umbau der Habsburgermonarchie an. Nach dem Zerfall des Habsburgerreiches wurde er Berater des sozialdemokratischen Kanzlers Karl Renner.

Kelsen gilt als „Vater“ der bis heute gültigen österreichischen Verfassung (B-VG) und besonders des damals neu errichteten Verfassungsgerichtshofes (VfGH); nach Olechowski freilich ist diese Einschätzung „nicht bloß eine Übertreibung, sondern schlicht und einfach falsch“ (S. 293.) Daher ist es vielleicht präziser, Kelsen als „Architekt“ der Verfassung und als „Ideengeber“ (später auch Verfechter) der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bezeichnen. In der „Ersten Republik“ wurde er Verfassungsrichter an dem von ihm mitkonzipierten Verfassungsgerichtshof (VfGH) – der weltweit ersten solchen Institution –; seine Tätigkeit als Verfassungsrichter und als der Wiener Sozialdemokratie nahestehender Public Intellectual brachte ihm sehr viel Hass seitens der konservativen und deutschnationalen Kreise entgegen. 1930 verlor er – aufgrund einer Verfassungsnovellierung – seine Position als Verfassungsrichter, woraufhin er eine Professur in Köln annahm. Deutschlands Demokratie schien 1930 noch bessere Aussichten zu bieten als Österreich. In Köln durfte er aber nur drei Jahre bleiben, nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten trieb ihn eine langjährige und langwierige Flucht durch die halbe Welt (Exil in Genf, Professur an der Deutschen Universität in Prag, Lehrtätigkeiten an Harvard), welche letztendlich in Kalifornien endete: Richtig heimisch fühlte er sich von all diesen Lebensstationen nur im sonnigen Kalifornien und im kosmopolitischen Genf.

Olechowski verfolgt neben dem Lebensweg natürlich auch die Entwicklung der Kelsen'schen Theorien: Sein immenses rechtstheoretisches, verfassungs- und völkerrechtliches, demokratietheoretisches, ideengeschichtliches Œuvre lässt sich durchaus als Produkt seiner jeweiligen Zeit begreifen. Eine solche neue Lesart, die mit Olechowskis Buch erst angefangen und angeregt wurde, kann Kelsen „erlebbarer“ (und insofern auch für heutige Debatten „verwendbarer“) machen. Viele Herausforderungen, denen wir heutzutage begegnen (antiliberale Tendenzen, populistische Bewegungen, Anti-Intellektualismus, Debatten um das Wesen der Demokratie usw.), sind nicht vollkommen anders als jene, in denen Kelsen seine Theorien entwickelte.

Auch wenn Kelsens Werdegang sicherlich nicht so viel Zündstoff und schillernde „Bosheiten“ anbietet wie jener von Carl Schmitt, ist er nicht irrelevant, auch im Hinblick auf das Verständnis der „Reinen Rechtslehre“ selbst. Dass Kelsen den Staat als vorrechtliche Größe bzw. die Homogenität als notwendige Voraussetzung einer Demokratie bestritt, erklärt sich in vielerlei Hinsicht mit seinem österreichischen Hintergrund: Als Kind eines supranationalen Vielvölkerstaates waren ihm alle substanziellen, völkischen, metaphysischen Ideen befremdlich. Oder dass Kelsen die Demokratie von der Minderheitenposition her konzipierte (für ihn bestand das Wesen der Demokratie nämlich darin, ein Verfahren zu ermöglichen, in dem die jeweilige Minderheit jederzeit zur Mehrheit werden kann), lässt sich nicht vom „roten Wien“ der Zwischenkriegszeit wegdenken: Der Wiener Kelsen stand nämlich den österreichischen Sozialdemokraten nahe, die in der Zwischenkriegszeit (in der sogenannten „Ersten Republik“) nur in Wien politische Macht ausüben konnten und insofern gegenüber der „schwarzen“ Bundesregierung immer in einer Minderheitenposition waren.

Olechowskis Arbeit leistet die notwendige Voraussetzung für einen „historical turn“ auch in der Kelsen-Forschung. Nach diesem Buch lassen sich nämlich die Wechselwirkungen zwischen Akteur (agency) und System am Kelsens Lebensweg und seinem Lebenswerk besser erkennen, was zu weiterer Erforschung der einzelnen Lebensphasen (Österreich, Deutschland, Exiljahre, USA) anregen kann. Das Buch richtet sich auch an alle, die sich für die ehemalige Wiener Kultur und deren Fortsetzung im Exil interessieren. Infolge dieser Biographie wird der bisher außer der Rechtswissenschaft kaum bekannte Kelsen wohl auch jenseits seines Faches Beachtung erfahren – etwa in den Geschichts- und Kulturwissenschaften.

Anmerkungen:
1 Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: ders., Werke, Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, hrsg. von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, Tübingen, Tübingen 2007, S. 29–91.
2 Rudolf Aladár Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969.

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